PRESSREVIEW

"Berlin liegt auf dem Balkan" / Philipp Mäder

Tagesspiegel, 2001

Berlin und Belgrad verbindet mehr als man denkt. Das behauptet zumindest die BerlinBeta. Das "Festival for Digital Media, Business and Culture" beschäftigt sich unter dem Titel "Urban Drift" mit Städten, die "außer Kontrolle geraten" sind. Die Kuratorin von "Urban Drift", Francesca Ferguson, vertritt eine unkonventionelle Sichtweise auf die Stadt: "Ich interessiere mich dafür, wie urbane Wunden als Chancen für die Zukunft begriffen werden können." Und solche Wunden gibt es genug in Berlin und Belgrad. Die beiden Städte werden als "Wild Cities" auf der BerlinBeta vorgestellt. Denn beide Städte haben weiterhin damit zu kämpfen, dass der Sozialismus in Europa vor inzwischen über zehn Jahren zusammengebrochen ist. Auch wenn die Konsequenzen dieses Scheiterns in Deutschland und Ex-Jugoslawien äußerst unterschiedlich ausfallen.

Matthew Griffin von "Deadline Architects" wird auf der BerlinBeta das Internetportal "Urban Open Source" präsentieren, das die temporäre Nutzung von leerstehenden Räumen erleichtern soll. Denn wenn der Mauerfall auch keine "Balkanisierung" Berlins brachte, so mussten doch viele DDR-Firmen den Betrieb einstellen. Positiv formuliert schuf dies Freiflächen, die nun anderweitig genutzt werden können. Zum Beispiel zwischen Ostbahnhof und Ostkreuz: Im stillgelegten Postbahnhof werden die "Körperwelten" ausgestellt, das abgewickelte Reichsbahn-Ausbesserungswerk wird für Clubveranstaltungen genutzt und im früheren Redaktionsgebäude des "Neuen Deutschland" haben sich Jungunternehmer eingemietet. "Unsere Software bringt in solchen Fällen Besitzer und Nutzer von Immobilien zusammen", erklärt Griffin das Konzept von "Urban Open Source", das im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes entsteht. Im Endausbau sollen Freiflächen in fünf europäischen Städten zugänglich gemacht werden.

Konkret sieht das so aus: Ein Künstler möchte für zwei Monate seine Werke ausstellen. Er gibt die benötigte Fläche und den Zeitraum im Internet ein, die Datenbank liefert leerstehende Räume, die den gestellten Anforderungen entsprechen. Per E-Mail verhandelt er mit dem Vermieter über den Preis. Nur der Mietvertrag muss noch von Hand unterschrieben werden.

Für Griffin ist es naheliegend, dass Architekten ein solches Angebot schaffen, und nicht etwa Ökonomen: "Software hat viel mit Städtebau gemeinsam. Beides beeinflusst unser tägliches Leben. Und beides kann eine schlechte Architektur haben." Sein Ideal ist eine Stadt, die wie eine "Open- Source"-Software funktioniert. Diese Programme, zum Beispiel das Betriebssystem Linux, kann jeder nach seinen Vorstellungen verändern und weiterentwickeln. Der "Source Code" ist offen zugänglich. In der Stadt kann dieses Prinzip allerdings nur so weit umgesetzt werden, wie das eigene Grundstück reicht. Dahinter hat der Nachbar das Sagen.

Der Begriff "Beta-Version", der für Software verwendet wird, die sich noch im Entwicklungsprozess befindet, hat dem Festival BerlinBeta den Namen gegeben haben. Denn auch Berlin entwickelt sich ständig weiter, funktioniert erst teilweise reibungslos. Doch wenn Berlin die Beta-Version einer Stadt ist, so ist Belgrad die Alpha-Version. Informatiker bezeichnen mit "Alpha" die Rohfassung eines Programmes, das noch permanent vom System-Absturz bedroht ist.

Vom Zusammenbruch bedroht ist auch das wirtschaftliche und politische Gefüge von Belgrad. Milica Topalovic wird auf der BerlinBeta über Schwarzmarkt und unkontrolliertes Bauen in Belgrad berichten. Für Topalovic birgt diese Instabilität jedoch große Chancen: "Chaotische und heterogene Prozesse schaffen Innovationen, die ein längerfristiges Potenzial haben." Dieses Potenzial zu erkennen und für die Städteplanung der Zukunft nutzbar zu machen, ist das Ziel seines Forschungsprojektes.

Im Gegensatz zum Berliner Projekt der "Urban Open Source", bei dem das Internet im Mittelpunkt steht, spielt bei der Erforschung der "Wild City" Belgrad das Internet kaum eine Rolle. Für Francesca Ferguson ist es nebensächlich, welche Medien in den einzelnen Projekten verwendet werden: "Das Radio ist genauso gut wie das Internet. Wenn man damit etwas verändern kann." Nach den Jahren des Hypes, in denen das Internet als alleiniger Glücksbringer gehandelt wurde, vielleicht ein weiteres Zeichen dafür, dass der Umgang mit den Neuen Medien realistischer geworden ist.