PRESSREVIEW

Caroline Raspé review of the TAMA project (Urban Drift 2001).

Der Architekt nr. 10, 2001, pp. 42 - 45

Das Avliza-Viertel in Menidi-Athen

Maria Papadtmitriou, eine international arbeitende Künstlerin aus Athen, initiierte in Avliza ein interdisziplinäres Projekt unter dem Titel "TAMA" (Temporary Autonomous Museum For All) (1). Im Griechischen bedeutet "TAMA" Opfergabe, es ist jedoch nicht nur eine Gabe, es impliziert gleichzeitig das Versprechen eines Heiligen, für die dargebrachte Gabe auch zu helfen. Diese Hilfe wiederum nennt man "VOW". An dem TAMA-Projekt beteiligen sich zur Zeit Architekten, Soziologen, Filmemacher, lokale Bewohner und Künstler (2). Maria Papadimitriou fungiert als Mittlerin und Koordinatorin. Nüchtern und präzise betrachtet, geht es bei diesem Vorhaben um die Schaffung von sozialen Einrichtungen für eine Wanderpopulation in Griechenland.

In Avliza leben zur Zeit etwa 250 Familien. Das Gebiet ist nicht an das öffentliche Versorgungssystern angeschlossen. Es gibt kein Zu- und Abwassersystem, keine offizielle Elektrizität, kein Müllentsorgungssystem, geschweige denn öffentliche Telefone, Plätze, Spielplätze, oder gar einen Versammlungsort. Einige Familien leben seit Jahren dort, und es gibt bauliche Ansätze der Verfestigung der Hüttenstruktur.

Durch die voranschreitenden Planungen für die Olympiade 2004 in Athen liegt das Viertel nun sehr nahe an dem für das Olympische Dorf vorgesehenen Terrain und gerät somit in den öffentlichen Fokus. Seitens der Regierung gibt es Überlegungen, dieses Gebiet in eine große Parklandschaft zu transformieren.

Das Problem der Wanderpopulationen existiert in ganz Griechenland, Wie überall siedeln sich Nomaden auch hier in der Peripherie der Großstädte an. Es handelt sich um eine innere Migrationsbewegung, die sich aus der Suche nach besseren Lebensbedingungen erklärt, Insgesamt existieren 52 dieser nomadischen Gemeinden über das Land verteilt. Die Bewohner dieser Ansiedlungen aus der Peripherie der Großstädte in andere Gebiete umzusetzen, würde bedeuten, ihnen ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Historisch sind diese Wanderpopulationen in Griechenland nie verfolgt worden- man hat sich zwar nicht weiter um diese Menschen gekümmert, aber sie wurden geduldet.

Die Europäische Union unterstützt derzeit ein finanziell gut ausgestattetes und groß angelegtes Ansiedlungsprogramm für diese Minoritäten in Griechenland. Es hat seinen Schwerpunkt im Bereich der sozialen Einrichtungen und der Organisation der Gemeinden. Das erste mit diesen Mitteln durch die Regierung fertiggestellte Projekt liegt in der Peripherie von Thessaloniki.

Das Ministerium, das für die Integration von Minoritäten in die griechische Gesellschaft sowie für die Restrukturierung solcher Gebiete zuständig ist, hat der Anregung von Maria Papadimitriou, Avliza zu einem Pilotprojekt zu machen, wie sie sagt "ein offenes Ohr geschenkt", und seine Kooperation zugesagt. Bis jetzt hat die Künstlerin erreicht, daß die Finanzierung eines Müllentsorgungssystems durch einen privaten Sponsor gesichert ist. Die Gelder für den Bau einer kleinen Kirche, die einerseits als Versammlungsort dient und andererseits der starken Religiosität dieser am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen Rechnung trägt, sind von der Regierung bereit gestellt. Die Pläne der Kirche sind im zuständigen Ministerium entwickelt worden. Von den möglichen Realisierungschancen ahnte Maria Papadimitriou noch nichts, als sie an dem Projekt zu arbeiten begann.

Ein temporäres Museum für Alle

1998 begleitete sie Freunde, die auf der Suche nach antiken Möbeln zu guten Preisen waren, in das Avliza-Viertel in Menidi: eine verwahrloste Gegend, zehn Kilometer westlich vom Zentrum Athens, das als Pied-à-terre für Wanderpopulationen wie die Roma und die Vlach-Rumänen aus dem Norden Griechenlands dient. Sie leben von dem Verkauf wiederaufgearbeiteter Möbel, die meist aus Osteuropa stammen, und in speziellen Geschäften in Athen angeboten werden.

Maria Papadimitriou war schon beim ersten Besuch nicht von den Antiquitäten, sondern von dem Ort selbst fasziniert, von der sich ständig verändernden "emotionalen Topographie". Sie wurde, wie sie es formuliert, eine "süchtige Besucherin", und nach einiger Zeit auch Vertraute der Anwohner. Das war, man kann es sich vorstellen, in einem Kontext, in dem Fremde eher Feinde sind, ein sensibler und langwieriger Prozeß.

Die Eigenwilligkeit, aber auch Präzision in der Auswahl der gesammelten Materialien für die Häuser der dort siedelnden Familien, ebenso ihre extreme Farbigkeit, ihr Sinn für dekorative Arrangements im Interieur sind im Kontext zeitgenössischer Kunst um so faszinierender. Sie erinnern an Arbeiten heutiger Künstler, sind jedoch nicht wie diese aus ihrem Kontext herausgelöst. Gleichzeit war aber nur zu offensichtlich, daß es dieser Lebensgemeinschaft an allen möglichen Versorgungseinrichtungen und auch nur annähernden Bequemlichkeiten fehlte.

Pure Faszination war der Antrieb für Maria Papadimitriou zu Beginn dieses Projektes, Der intellektuelle Ausgangspunkt -, und das ist ein eindeutig politisches Verständnis ihrer Künstlerrolle in diesem Projekt -, ist das Konzept des Künstlers als Kommunikator, Die Wahl des Titels "TAMA" und die Veröffentlichungen des Projektes im Kunstkontext katapultierte diese kleine Gemeinde direkt in den Diskurs um den Begriff des Museums (3). Das "Museum" wird hier wieder als "soziale Einrichtung" eingeführt, diese Position steht in einer langen Tradition. Gleichzeitig enthält der Titel eine Anspielung auf das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorhandene "Museum für zeitgenössische Kunst" in Athen, und eröffnet so einen weiteren gedanklichen Spielraum.

Bei TAMA geht es um die Förderung und Entwicklung von Beziehungen, nicht um Ironie oder das Zelebrieren von Brüchen, ebensowenig um die Romantisierung des Begriffs "Nomadismus" oder gar die Reproduktion von Bildern eines besseren Lebens. Es geht zuerst einmal nur um die Verarbeitung der visuellen und empirischen Daten Avlizas. Was TAMA in erster Linie zu leisten versucht, ist der Respekt für die Vielfalt und eine positive Neubetrachtung des Alltagslebens.

Eigenarten der Lebensweise Die "Nomaden" haben einen ausgeprägten Sinn für Freiheit. Sie verstehen sich als griechische Bürger. Die Kinder gehen nicht gerne, wenn überhaupt, zur Schule. Einige der Häuser haben Fußböden aus verfestigtem Sand. Zentrales "Mobiliar" sind Teppiche, Decken und Tücher - vielfältig in Farbigkeit und Ornament, sie werden fast täglich sorgfältig gewaschen. Sie dekorieren die Dachuntersicht ihrer Häuser im Sommer mit weißen, im Winter mit bunt gemusterten dunkelfarbigen Tüchern, um es "wärmer" zu haben. Alles, was sie sammeln, wird systematisch geordnet.

Einige der Häuser haben keine Fenster. Es werden Löcher in die Außenhaut geschnitten, die im Sommer mit Stoff zugehängt, im Winter mit Planen zugenagelt werden. Außerdem sind diese Menschen wunderbare Köche und Köchinnen.

Die Familienclans besuchen sich untereinander, sie feiern ihre Feste. Brot hat eine zentrale Bedeutung.

Ihre Häuser sind stark individualisiert. Der Grundriß der Ansiedlung, die Zuordnung der Hauseingänge und Hausrückseiten, die Gruppierungen der Häuser folgt keinem geplanten Raster oder wie auch immer gearteten System, sondern bildet eher eine emotionale Topographie. Durchläuft man das besiedelte Gebiet, folgt man der Figur eines Labyrinthes.

Die architektonischen "Skizzen" zu Prototypen von Infrastruktureinrichtungen, die in einem ersten Workshop mit den Architektinnen Hariklia Hari und Dora Papadimitriou entstanden sind, beruhen in ihrem funktionalen Programm auf abgefragten Wünschen und sind immer wieder mit den Bewohnern diskutiert und weiterentwickelt worden. Es sind die ersten Überlegungen zu möglichen Prototypen für Infrastruktureinrichtungen, die auch auf andere Ansiedlungen übertragbar wären.

In Griechenland ist es Tradition, die öffentlichen Bauten im sozialen Bereich wie Schule oder Kindergärten als Prototypen zu bauen.

Folgende Wünsche wurden erarbeitet: Ein "kompaktes Gebäude", eine Art zentrales Service-Gebäude mit öffentlichem Telefon, WC, Erste-Hilfe-Raum, einem Raum für einen Sozialarbeiter, mit einem Treffpunkt, beispielsweise einer Café-Bar, ein Raum zum Spielen, ein Freiluftkino. Ein "Klassenzimmer", bestehend aus einem Raum, der mit moderner Technologie wie Computern ausgestattet ist und den Kinder einen spielerischen Zugang zum Lernen ermöglicht. Ein "öffentliches Bad", das einerseits das Grundbedürfnis nach einem heißen Bad befriedigt, andererseits aber auch als Treffpunkt fungieren kann. Auf der Liste standen noch ein Werkstattgebäude, in dem Jugendliche verschiedene handwerkliche Fähigkeiten trainieren, ein Restaurant, ein Schlafplatz für Gäste, ein Spielplatz und ein System von Kiosken, in denen die Leute ihre Möbel anbieten können.

Ein selbstgewähltes Design-Kriterium war, die Architektursprache so simpel wie möglich zu halten. Das erklärt sich einerseits vor dem Hintergrund der Finanzierbarkeit, andererseits sollte der Raum für eine Dekoration durch die Bewohner erhalten bleiben.

Anmerkungen

Caroline Raspé und Maria Papadimitriou stellten das griechische TAMA-Projekt Anfang September auf der "urban drift"-Konferenz in Berlin vor. Dieses Symposium, organisiert von Francesca Ferguson, war einer der Schwerpunkte des "Festival for Digital Media, Business and Culture", in dem Projekte, die den städtischen Raum, die Peripherie und die Zwischenräume mobilisieren und reanimieren, vorgestellt und diskutiert wurden (www.berlinbeta.de).

Derzeit arbeiten mehrere Menschen am TAMA-Projekt Maria Papadimitrious mit: Adelina von Fürstenberg, Art for the World; Andreas Angelidakis, Architekt; Antonis, Bewohner von Avliza; Bernard Kunding, Soziologe; Caroline Raspé, Architektin; Constantine Giannaris, Filmregisseur,De Anna Maganias, Künstlerin; Dimitris, Bewohner von Avliza; Eleftheria, Bewohnerin von Avliza; Eleni Kostida, Architektin; Fabiana de Barros, Künstlerin; Hariklia Hari, Architektin; Katharina Wuerthle, Künstlerin; Kyriakoula, Bewohnerin von Avliza; Michel Wuerthle, Künstler; Niki, Bewohnerin von Avliza; Panagiotis, Bewohner von Avliza; Spyros Petrounakos, Schriftsteller; Theodora Papadimitriou, Architektin; Yeorghia, Bewohnerin von Avliza; Yorghos, Bewohner von Avliza; Yorghos Tzirtzilakis, Architekt

Weitere Veröffentlichungen des Projektes in: Magazine The Breeder, Athen, 2. AusgabeCamera Austria, International, Heft 74/2001

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