PRESSREVIEW

"Urban Drift 2001" / Claudia Gliemann

transfer nr. 8, 2001, pp. 81 - 85

Unter der Überschrift "Unsere Rechner sind vernetzt. Und was ist mit unseren Gedanken?" stand in diesem Jahr das Programm der BerlinBeta Version 2001. Es gliedert sich in Konferenzen, Club Events und Filmfest, und widmet sich dabei den Medien in bezug auf Design, Film, Wirtschaft und Architektur. Neben dem Austausch der neuesten Technologien im jeweiligen Gebiet und darüber hinaus ist das Ziel der Veranstalter, Berlin als Medienstadt international zu etablieren.

Urban Drift hieß die Konferenz zur Auseinandersetzung mit medialer Architektur. Kuratorin war, wie schon in den letzten Jahren Francesca Ferguson. Die geladenen Architekten stellten Projekte vor, in denen digitale und andere Netzwerke zur Integration der Öffentlichkeit in den Designprozess, zur Analyse außer Kontrolle geratener urbaner Räume, zur Reanimation oder Bildung neuer Formen in der Architektur geführt haben. Cedrie Price (Cedrie Price Architects, London) eröffnet die Konferenz mit dem Bild eines Labyrinths. Nichts neues eigentlich, mit der Ausnahme, daß eine Schnecke sich ins Bild schleicht. Und Cedric Price erklärt, daß diese Schnecke sich nicht an das Konzept der Architektur hält. Sie nutzt das Labyrinth nicht nach dem allgemeinen Prinzip, dem zufolge nur ein Weg in die Mitte und wieder heraus führt, und wo man sich auf der Suche nach diesem, je nach Stimmung panisch verirrt oder lustwandelt. Die Schnecke ignoriert das Prinzip, indem sie einfach darüber hinweggeht. Sie kriecht die Wände vertikal hoch und wieder runter und eröffnet sich so als langsames Wesen einen schnellen Weg des Durchgangs.

Was soll dieses Bild? Es sagt, daß Architektur ohne Information und Kommunikation in einer ihr vielleicht nicht vorbestimmten, ihr aber doch eigenen Weise funktionieren kann. Im Gegensatz zur herkömmlichen Vorgehensweise, die sich durch das Verstehen eines Konzepts oder Prinzips und der daraus schließenden Benutzung auszeichnet. In medialer Verbindung arbeiten die Teilnehmer der Konferenz in ihren vorgestellten Projekten mit der einen oder anderen Variante.

Würde nun die Schnecke nicht nur eine glitschige Spur hinterlassen, sondern Verformungen des Labyrinths durch ihren Weg bewirken, hätten wir eine Arbeit von Mark Goulthorpe (DECOI architects, Paris). In Zusammenarbeit mit Informatikern entwickelt er Architektur, die auf Passanten oder Sound reagiert. Aber nicht so, daß sich auf einem an die Fassade montierten Screen Bilder und Farben verändern, sondern die Form selbst ändert sich. Das heißt, die physische Wand nimmt unterschiedliche Formen an (Abb. 1). Möglich wird dies durch eine Computersteuerung. Wurden bis jetzt bewegte Formen nur für den Entwurf verwendet, die sobald materialisiert erstarrten, oder in Räumen, die im Computer blieben, wird nun mit Hilfe des digitalen Mediums Material bewegt. In Mark Goulthorpes Fall Metall, das in Mustern angeordnet interaktiv zum virtuell eingestellten Gegenüber wirkt, sei dieser musikalisch rhythmisch oder physisch menschlich.

Modisch, reell und virtuell arbeitet Reed Kram (Kramdesign, Dänemark) zusammen mit Rem Koolhaas (OMA) an Pradastores in Los Angeles, New York und San Francisco. Inspiriert hat sie dazu die Verbindung von Technologie und Eleganz in Stanley Kubriks Film Odyssee 2001. Und so entstanden für Prada Räume, wo neben den teuer eleganten Kleidern auf der Stange Bildschirrne hängen, die das Neuste von den Modenschauen zeigen und Kabinen, in denen man das anprobierte Kleid ohne sich zu drehen von hinten und vorne betrachten kann. Die Technologie des digitalen Mediums wird hier genutzt um den physischen Raum reicher zu machen an Bequemlichkeit, Information und Ästhetik.

Für sein Projekt Living 2020' stellte sich Reed Kram der Probe, auch in Räumen zu leben, die reelles und virtuelles vereinen. Dafür wurde ein einfacher physischer Kubus 3 x 3 x 3 m mit Projektionen von Inneneinrichtungen, Tageszeitung u.a. ausgestattet, nur ein Tisch und das Bett waren echt. Das gute daran, die Zeitung läßt sich ohne Müll beseitigen und durch eine andere Lektüre ersetzen, die Inneneinrichtung schnell und billig austauschen. Schade nur, daß man in den Sesseln nicht fletzen kann.

Nicht überlagernd, sondern als Parallelwelten arbeitet Claire Pétetin (Grégoire & Pétetin, Paris) mit dem digitalen Medium und konkreten Orten. In ihrem Projekt "Second Time Zone Territories", stellte sie das Modell eines Gebiets in Paris mit Bauten der 60er Jahre und vielen sozialen Problemen ins Netz und ermutigte die Anwohner, an diesem virtuellen Wohnort zu arbeiten. Das Projekt wurde von der Stadt unterstützt, und es funktioniert. Nachdem sich die Anwohner mit dem für manche ganz neuen digitalen Medium vertraut gemacht hatten, tauschten sie Probleme und Ideen aus, machten Vorschläge zur Verbesserung ihrer Wohnqualität. Jeder, der sich engagierte, konnte mitbestimmen, was geändert und was beibehalten werden sollte. Die veränderten digitalen Räume sollen, nachdem sich bestimmte Wünsche klar geformt haben, auf den konkreten Ort übertragen werden. Das Projekt läuft noch.

Auch mit konkreten Orten, aber in anderer Weise arbeiten Matthew Griffin und Britta Jürgens (Deadline Architects, Berlin). Mit Hilfe des digitalen Mediums erschließen sie physische Räume, das heißt konkrete Orte in der Stadt, die verfügbar sind und temporär genutzt werden können. Für ihr Projekt "Urban-OS" entwarfen sie eine Website (www.urban-os.com), auf der man in verschiedenen europäischen Städten noch freie Plätze finden kann. Warum? Weil sie an das Potential noch unbesetzter Räume glauben, und an die Kreativität, die Raum braucht, um sich entfalten zu können. Eines ihrer frühen Projekte war ein Raum in der Mitte von Berlin, wo jeder, der etwas zu zeigen hatte, es zeigen konnte. Er wurde stark frequentiert, bis sie den Raum verlassen mußten, für neue permanente Nutzer. In einer sich so schnell wandelnden Stadt wie Berlin heißt das, flexibel bleiben und neue Orte suchen.

An immer neue Orte verschlägt es auch viele Clubs in Berlin, besonders das WME Ortswechsel ist ein Phänomen dieser Stadt. So steht zum Beispiel im jetzigen WMF eine Bar aus der Bowlinghalle des Palastes der Republik. Und eine zweite aus der Haupthalle geht auf ständige Reise. Veranlaßt hat das Fred Rubin (Bildhauer, Berlin). Auf der Konferenz erzählt er das "Märchen" der Palastbars. Am Anfang stand kein Konzept. Die Bars gerieten zufällig in seine Hände. Als erstes die aus der Haupthalle. Er beschloß sie auszubauen und so zu zerlegen, daß er sie auf Reisen schicken und in ihrer Funktion an jedem Ort der Welt nutzen kann. So hat er sie entortet, um ihr einen immer wieder neuen Ort zu geben. Die andere Bar aus der Bowlinghalle sollte in Berlin bleiben. Und vielleicht treffen sie sich mal wieder an ihrem Heimatort und in einem Haus. Doch der Transfer der Bars ist nicht nur ein örtlicher, sondem auch ein politischer. Objekte des Palastes der Republik, also Staatseigentum der ehemaligen DDR und Ausdruck einer nun nicht mehr existierenden Politik und Kultur, gehen über in Privateigentum eines Künstlers, der ihren Wert erkennt und transformiert. "Rotations Recycling" nennt es Fred Rubin.

Architektur kann in verschiedenen Medien, aber auch als Medium gesehen werden. Und so ist das voherige Beispiel eines, in welchem ein architektonisches Objekt das Medium wechselt. Nicht ins digitale, sondern ins Medium Kunst und in eine andere Kultur.

Ein weiteres berlinspezifisches Projekt stellen Urs Füssler (Architekt, Berlin) und Andreas Schneider (Musiker und Organisator, Berlin) vor. Unter vielen andern waren sie für 1 1/2 Jahre Mieter im "Haus des Lehrers" am Alexanderplatz. Ein Werk von Hermann Henselmann, mit einem Fries von Womacka, im Stil des sozialistischen Realismus. Da das Haus seit langem leer stand, mieteten sich verschiedene meist junge Büros ein. Eine bunte Mischung aus Künstlern, Graphikern, Architekten und Musikern. Auf den breiten Fluren und Treppenhäusern traf man sich zum Café. Und aus den Kontakten entstand nicht selten eine Zusammenarbeit. Projekte inspiriert durch das Haus, seinen Standort und die Umgebung wurden dem breiten Publikum als Event präsentiert. In einer Lounge und als Mix zwischen Galerie, Club und Business. Das Haus ist nun verkauft, die Büros ausgezogen, umgezogen ins nahe gelegene "Haus des Reisens" und ins "Neue Deutschland" am Ostbahnhof. Das "Haus des Lehrers" soll umgebaut werden.

Das "Haus des Lehrers" war ein Beispiel, wie durch einen Ort und seine Struktur ermöglicht wird, daß verschiedene Gruppen und Medien aufeinandertreffen, zusammen arbeiten und sich zu vernetzen beginnen. Nun zerstört der Business Faktor diese Verbindungen, sowie das Innenleben des Hauses samt seiner Architektur.

Ein anderes Beispiel in Berlin, das nicht in der Konferenz vorgestellt wurde, ist die Ausstellung von Ann Veronica Janssens in der Neuen Nationalgalerie. Durch das Medium Kunst wurde hier der Mies van der Rohe-Bau neu inszeniert. Im Mittelpunkt steht nicht wie sonst ausgestellte Kunst, sondern der Raum selbst. Der Raum, das ist Stahl, Glas und Marmor, groß und gerade angelegt, lichtdurchflutet, wie man es von modernen Bauten erwartet, Was gibt es da noch zu entdecken, neu zu inszenieren?

"Light Games" nennt Ann Veronica Janssens ihr Kunstwerk, in welchem sie dem Besucher Fahrräder und Spiegel in den Raum stellt. Ansonsten ist der Raum leer, keine Stellwand verstellt ihn. Architektur pur. Der Besucher kann so den gesamten Raum erfahren und reflektieren. Eine ungewöhnliche Annäherung von Kunst und Architektur, bei der Kunst nicht versucht wie Architektur auszusehen und trotzdem ihr Mittelpunkt ist. Kunst ist hier das Medium durch das Architektur betrachtet wird.

Nun gilt die Neue Nationalgalerie als einer der vollendetsten Bauten der Moderne. Was also kann der Betrachter hier neues und anderes wahrnehmen, als den Raum, den er vielleicht schon von vielen Ausstellungen her kennt? Als erstes wird die Aufmerksamkeit auf den Raum gelenkt. Der Raum dient hier nicht mehr als Hülle für die Kunst. Er selbst soll betrachtet werden. Der Betrachter kann so dessen Größe, seine Weite, sein Fließen von Innen nach Außen konzentriert wahrnehmen, die Reflexionen der großen Glasscheiben, die die Umgebung im Inneren visuell abbilden, wie sich so Innen und Außen durchdringt, verstärkt durch die bereitgestellten, transportablen Spiegel, in denen sich alles bricht und in denen sich der Betrachter unter anderen Besuchern sieht. Die Fahrräder bringen beschleunigte Bewegung in den Raum. Und da ihre Räder zusätzlich mit Metall verkleidet sind, verstärkt sich noch einmal die Reflexion in der Bewegung. Der Betrachter ist hier aktiver Raumgestalter, nicht nur passiver Besucher. Das Rationale der Neuen Nationalgalerie, also ihr genaues Raster, die Proportionen, ihre Übersichtlichkeit, wird bereichert durch andere Seiten, die der Raum außerdem zu bieten hat, die in ihm stecken und die der Betrachter wahrnehmen kann als ein bewegtes Spiel von komplexen Überlagerungen zwischen Innen und Außen, Physischem und Visuellem.

So erfüllt von gebrochenem Licht und Bildern, kann der Besucher auf der Terrasse der Neuen Nationalgalerie noch Janssens Arbeit "Red, Yellow and Blue" besichtigen. Von außen ein einfacher Kubus, von innen ein Raum ohne Grenzen. Und ganz entgegen der Erfahrung, die der Besucher gerade in der Neuen Nationalgalerie machen konnte, findet er sich hier in einem Raum voller Nebel, der sich mal rot, mal gelb, mal blau färbt. Eine intensive Erfahrung, bei der man sich in einem Raum weiss, ihn aber nicht sieht. Die Raumgrenzen sind verschwunden, obwohl physisch vorhanden. Die Wahrnehmung verliert sich. Kunst negiert hier Architektur. Das eine Medium läßt ein anderes verschwinden. So wie Projektionen des digitalen Mediums manchmal die Wände dahinter vergessen lassen. Das Interessante an Ann Veronica Janssens Arbeit ist, wie sie Kunst und Architektur miteinander agieren läßt. Zum einen hebt sie Architektur durch Kunst hervor, indem sie den Blick und die Aufmerksamkeit auf die Architektur fokussiert, um dann durch Kunst Architektur aufzuheben.

Claudia Gliernann ist Architektin und Doktorandin in Berlin.

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